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Mittwoch, 19. April 2017, 09:26

Pulse of Europe: Wunsch und Wirklichkeit

Michael Köhler schreibt:
Es ist kein Zufall, dass die Initiative „Puls of Europe" nirgends so viele Menschen zur Teilnahme an den sonntäglichen Demonstrationen motivieren kann, wie in Deutschland. Hier feiert Pulse of Europe derzeit seine größten Erfolge: Kann man auf Deutschland bzw. seine Geschichte nicht stolz sein, ist das Gefühl umso beglückender, sich im Kollektiv für Europa zu begeistern. Aufgeschreckt durch Brexit, Trump und Le Pen, sehen die Demonstranten Europa durch Rechtspopulisten und Nationalisten gefährdet. So viele Menschen und unter ihnen so viele junge Menschen, die sich für so hehre Ziele wie ein friedliches Europa und den Erhalt der EU einsetzen und zur Beteiligung an den Wahlen aufrufen – wie gerne würde man die- ses Engagement aus vollem Herzen begrüßen und unterstützen!
Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Daher wollen wir einige Anmerkungen zu bedenken geben.
Zunächst sollten verwirrende Begrifflichkeiten geklärt werden. Die EU ist keinesfalls mit Europa gleichzusetzen, wie dies nicht nur bei Pulse of Europe durchgehend geschieht. Allein schon die Institution des Europarates, der sich mit seinem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg für ein humanes, soziales und friedliches Europa einsetzt, ist häufig unbekannt oder wird fälschlicherweise als eine zur EU gehörende Einrichtung verstanden. Anders als in der EU ist aber im Europarat so gut wie ganz Europa vertreten, z. B auch Russland.
Bei den 10 Punkten des Selbstverständnisses von Pulse of Europe irritiert, dass die einzige konkrete Aus- sage lautet: „Die europäischen Grundfreiheiten sind unantastbar.“ Die vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten – sie gehören zum Gemeinschaftsrecht der EU – sind: freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften. 1964 erklärte der Europäische Gerichtshof, eine Institution der EU, dass die vier Grundfreiheiten nicht nur unmittelbar, sondern auch mit Vorrang vor dem nationalen Recht anzuwenden sind, sogar mit Vorrang vor den Verfassungen der EU- Mitgliedstaaten. Da die vier Grundfreiheiten weitgehend der Steuerung durch den Markt, d.h. dem freien Wettbewerb, unterworfen werden, stehen sie der Angleichung der ungleichen Lebensverhältnisse in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten entgegen.
Zu den 10 Kernaussagen von Puls of Europe gehört auch der Satz: „Der Friede steht auf dem Spiel". Dem kann man nur zustimmen. Wurde aber nicht die Hoffnung der Bürgerinnen und Bürger auf ein friedliches Europa jahrzehntelang instrumentalisiert, um klammheimlich die Höherrangigkeit der ökonomischen Grundfreiheiten gegenüber Demokratie und Sozialordnung im europäischen Binnenmarkt der EU zu etablieren? Die seit Jahrzehnten üblichen Reden, in denen Europa gefeiert wird und die schweren Probleme verharmlost werden, haben zu dem jetzt von Pulse of Europe beklagten Zustand beigetragen.
Ein wirtschaftliches Konzept, das bspw. von den deutschen Gewerkschaften vertreten wird, bezieht sich auf angelsächsische Erfahrungen und Theorien von J. M. Keynes, die als Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg  insbesondere öffentliche Investitionen ansehen. Eine andere volkswirtschaftliche „Glaubens"-richtung setzt auf eine rigorose Knechtschaft öffentlicher Haushalte zugunsten privater Vermögen, auf Schuldenbremsen und schwarze Nullen sowie auf einen flexiblen Arbeitsmarkt mit auseinanderklaffenden Löhnen und geringer Tarifautonomie.
Welche gravierenden Folgen für die Bürgerinnen Griechenlands das letztgenannte wirtschaftpolitische Konzept konkret hat, erläutert der EU-Abgeordnete der Grünen Sven Giegold. Er hat in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 10.04.2017 die vereinbarten neuen Reformschritte für das hoch verschuldete Griechenland kritisiert. Statt Klientelismus und die Steuerflucht der Reichen zu bekämpfen, kämen nun neue Kürzungen für die Armen und Alten, sagte Giegold im Deutschlandfunk. Und er fährt fort: „Ich rede von Geschacher, weil es die ganze Zeit um eine völlig absurde Verhandlungsposition ging. Der IWF (Internationale Währungsfond) wollte neue Austeritätspolitik, aber verbunden mit Schuldenerleichterungen, und Schäuble hat nun Austeritätspolitik ohne Schuldenerleichterungen durchgesetzt, mit neuen Kürzungen für die Armen und Alten, und das nützt weder der wirtschaftlichen Erholung Griechenlands, noch ist es sozial gerecht, sondern es bringt die Leute gegen Europa auf. Und das ist wirklich bitter, gerade nach den Demonstrationen für den „Pulse of Europe" gestern."
Für Griechenland, aber auch für andere EU-Südstaaten ist die gemeinsame Währung ein zusätzliches Problem: Eine Abwertung des Euro, die den Export dieser Staaten verbilligen würde, ist ihnen nicht möglich. Von ihrem Außenhandelsdefizit profitiert vor allem Deutschland mit seinen Außenhandelsüberschüssen.
Nicht nur der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm beklagt das Demokratiedefizit in der EU. Er zeigt in seinem Buch „Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie“ auf, dass selbst bei einer Ausweitung der Kompetenzen des EU-Parlaments das Demokratiedefizit in der EU nicht behoben wäre. Schon die banale Grundvoraussetzung jeder demokratischen Wahl: „One man – one vote" ist nämlich derzeit bei den Wahlen zum EU-Parlament nicht gegeben.
Bei medizinischen Auffälligkeiten und Problemen ist es angeraten, sich nicht nur einen gesunden Puls zu wünschen, sondern zur Diagnose den Puls zu messen. Es ist nicht überraschend, dass verschiedene Patienten einen unterschiedlichen Puls haben. Deutschland hat z. B. aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage einen anerkannt robusten Puls, wohingegen etwa bei Griechenland eine deutliche Schwächung des Pulses zu verzeichnen ist.
Die Brüche, die zwischen den EU- Mitgliedsstaaten entstanden sind, sind bedrohlich. Dasselbe gilt für die Brüche durch die Entfremdung zwischen der Ebene der Regierenden und der Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger, dem Souverän der EU.
Verschließt man vor dieser Wirklichkeit die Augen und beschränkt sich auf gute Wünsche, besteht die Gefahr, dass sich die Akzeptanz der EU bei den Bürgerinnen und Bürgern weiter vermindert und genau das geschieht, was Pulse of Europe verhindern will: Nationalisten und Rechtspopulisten werden weiter an Stärke zunehmen.
Wie gravierend diese Gefahr ist, verdeutlichen folgende Zahlen der Bundeszentrale für politische Bildung zur Jugendarbeitslosigkeit in der EU von Anfang 2016: In Deutschland fällt sie mit 6,9% am niedrigsten aus, in Italien liegt sie bei 39,1%, in Spanien bei 45,3% und in Griechenland bei 48,9%!